Der nachfolgende Text schildert Kindheitserinnerungen aus Krumpendorf in den 1940er Jahren. Der Text ist der Erzählung „Die Villa Mathilde“ von Helga Duffek-Kopper, Verlag Johannes Heyn, Klagenfurt, 1991, mit freundlicher Zustimmung der Autorin entnommen. Da die Erstausgabe vergriffen war, hat der Verlag 2004 einen überarbeiteten Nachdruck der Erzählungen „Die Villa Mathilde” und „13 Deka Leberkäs” als Doppelband herausgebracht.
Das Dorf war ein Straßendorf. An der Hauptstraße lag das Schloß, ihm gegenüber die Schloßgärtnerei, hübsch angelegt, symmetrisch, mit Rondells und Springbrunnen. An der Mauer ein Gedenkstein, eine Inschrift mit einem Kreuz. Hier verunglückte in den Dreißiger Jahren ein Mitglied der Familie Battenberg y Borbon, spanische Linie, mit dem Auto tödlich. Daher war auch die Inschrift spanisch. Flüsternde, geheimnisvolle Gerüchte waberten um den Gedenkstein. Da es in den Dreißiger Jahren noch nicht viele Autos gab, waren auch wenig Autounfälle zu verzeichnen und noch weniger Unfälle mit Todesfolge. Mit diesem Battenberg-Sproß hatte es aber eine besondere Bewandtnis: Er war ein Sohn der legendären, in Kreuzworträtseln weiterlebenden spanischen Königin mit drei Buchstaben und hatte die Bluterkrankheit geerbt. Bei jenem Autounfall nur leicht verletzt, verlor er durch seine Erbkrankheit so viel Blut, daß er bald darauf starb. So oder so ähnlich hat es sich abgespielt …
Die früher zum Schloß gehörenden Stallungen waren zu Geschäften umgebaut worden. Der Fleischhacker hieß Zirnig, die Milchfrau Anwalter, der Schuster Nagele. Es gab nur einen Fleischhacker, eine Milchfrau, einen Schuster, es gab auch nur einen Briefträger namens Mitterer, einen Dienstmann Egger und den einen Gemeindesekretär, den Mayrobnig Guste. Und es gab nur eine Partei. Zumindest nach dem Anschluß.
Kam in einem Buch, einer Zeitungsmeldung, in irgendeinem gehörten, gelesenen Text ein Fleischhacker vor, so hieß er für mich Zirnig. Alle Schuster hießen Nagele, alle Briefträger Mitterer. Später dann war für mich jeder Vulkan ein Vesuv, jede Seilbahn hieß Kanzelbahn. Pars pro toto. Das Dorf war die Welt. Und diese Welt hatte wunderbare Grenzen: Im Süden war es der See, hinter dem gleich die Berge aufragten, eine Bergreihe hinter die andere gestellt, von der vordersten Waldkulisse mit unterscheidbaren Bäumen über dunkelblaue, stahlblaue, himmelblaue, immer zartblauer werdende Zackenlinien, die sich zuletzt mit dem blauen Himmel vereinigten. Im Norden ein dunkler, fast schwärzlicher Wald, sanfter, hügeliger ansteigend als die südlichen Kalkberge, bei dem ich nur manchmal gern gewußt hätte, ob es hinter diesen sieben Bergen wirklich die sieben Zwerge gibt. Im Osten endete das Dorf mit dem Bahnhof. Die Grenze im Westen bildete, inmitten unseres Schwarzbeerwäldchens gelegen, der Gletschertopf, eine in der Eiszeit entstandene Gletschermühle, groß genug, um sich darin vor den suchenden Geschwistern verstecken zu können. Das Dorf besaß damals auch nur eine Kirche – eine Kapelle eher -, die St.-Georgs-Kapelle. Niemand sagte St.-Georgs-Kapelle. Daß sie so hieß, erfuhren wir erst, als sie abgerissen wurde und einem Betonungetüm, einer klerikalen Abschußrampe, Platz machen mußte. Als Kirche war dieses kleine Gebäude für mich ohne Bedeutung. Ich habe es nie von innen gesehen. Wir waren, wie vermutlich fast das ganze Dorf, in den sieben Jahren des Tausendjährigen Reiches gottgläubig und daher ohne jede Religion…..
Das Straßendorf bestand aus den entlang der Straße aufgefädelten Häusern ohne erkennbaren Stil: Langgezogen das Schloß, dicht an der Straße; etwas in den Hintergrund gerückt die ebenso langgezogenen ehemaligen Stallungen. ….. Vor und nach dem Schloßgebäude -schmucklose glatte Häuser mit kleinen Läden im Parterre und Wohnungen im ersten Stock, vielleicht noch in der Mansarde; viele einzelstehende Villen mit Türmen und Erkern, kaisergelb, lila, rosarot, schneeweiß, himbeereis-mit-vanille-farben, himmelblau und /artgrün. In den Vorgärten zur Straße hin wuchsen Rosen, die sich in silbrigen, goldenen, pastellschimmernden, dunkelroten und tiefblauen Glaskugeln spiegelten. Einmal eine solche Rosenkugel berühren dürfen! Einmal einen solchen Zaubergarten betreten dürfen! …..
Die Gitter dieser Gärten waren kunstvoller geschmiedet, sie hatten Ornamente, Blätter und Zacken, und sie wehrten ab. „Villa Laura”, „Villa Eleonore”, „Bellavista” und „Seeblick” hießen die Villen. Düstere, eng beisammenstehende Fichten und Tannen entzogen sie den Blicken der Spaziergänger. Aus geheimnisvollen, feuchten Gärten schössen Hunde bösartig und erschreckend hervor.
Es war besser, nicht die schmiedeeisernen Tore zu öffnen, es war besser, nicht die Hände durch die Gitter zu stecken. Aber Ribisel und Himbeeren wuchsen ohnehin nicht in diesen Gefilden. Nur einen Fleischhacker, eine Milchfrau, einen Schuster gab es also im Dorf. Aber es gab zwei Gasthäuser und drei Lebensmittelgeschäfte. Die Kundschaften und die Gäste waren exakt aufgeteilt. In den großen, den ältesten Gasthof, kehrten die feineren Leute ein und die Ausflugsgäste aus der Stadt. Wir gehörten nur zeitweise dazu, vor allem sonntags, wenn die Mutti nicht kochen wollte. „Wir gehen ins Gasthaus essen“ war immer eine festliche Angelegenheit mit einem Hauch von unanständiger Verschwendung. Ich mußte die drückenden Lackschuhe, weiße Söckchen und das duftige Ostereierkleid mit den vielen Rüschen anziehen, das später alle meine Schwestern als Festtagskleid weitertrugen. Bei schönem Wetter saßen wir an einem weißgedeckten Tisch im Gastgarten. Während wir auf die Suppe warteten, die aus schweren Messing- oder Silbertassen in Porzellanteller mit dem Wappen des Gasthauses gekippt wurde, fielen die Kastanienblüten in die weißgefältelten Stoffservietten und in die Suppenteller.
Mir war ganz feierlich bei der Leberknödel-, Frittaten- oder Grießnockerlsuppe. Ich fühlte mich sehr bedeutend, wenn der Ober, der „Herr” Werner, mich höflich mit „kleines Fräulein” ansprach. Seine Höflichkeit kam von Herzen, er behielt die Herzensbildung auch in jenen Jahren, als der Gast nicht mehr König, sondern hungernder Bittsteller war.
In den Gasthof gegenüber gingen die übrigen Dorfbewohner. Er verfügte über ein Vereinslokal, in dem bis zum Bau des „Braunen Hauses” auch unser Dorf wollte und konnte sich ein richtiges „Braunes Haus“ leisten die Parteiversammlungen stattfanden und einmal im Monat ein Wanderkino Wochenschauen und UFA-Filme vorführte. Überdies befand sich im Gasthof eine richtige Bühne. Hier hatte ich meinen großen Auftritt: Ich spielte, die mausgrauen dünnen Zöpfe zu einer wallenden Mähne gekreppt, das „Schneewittchen”. So weiß wie Schnee, so rot wie Blut, so schwarz, wie Ebenholz war ich zwar nicht, auch waren alle sieben Zwerge größer als ich. Aber ich besaß, was für Schneewittchen unerläßlich war, ein weißes, fließendes Prinzessinnengewand, das Charmeuse-Nachthemd meiner Mutter, ihr einzig gutes, damals noch intaktes Stück. Und ich konnte, vor Ehrgeiz und Eifer, Begeisterung und Lampenfieber glühend, als einzige den Text fehlerfrei und vor allem hochdeutsch aufsagen. Ich meine, es sind schon aus nichtigeren Gründen Hauptrollen vergeben worden…
Die beiden Gasthäuser standen, durch die Hauptstraße getrennt, einander gegenüber. Jeder sah, wer in das jeweils andere Lokal einkehrte. Alles hatte so seine Ordnung.
Ähnlich ordentlich teilten sich die Kundschaften auf die drei Lebensmittelgeschäfte auf. Nebeneinander lagen zwei Greißlereien. „Gemischtwarenhandlung“ stand in gotischen Buchstaben, die heute niemand mehr schreiben und fast niemand mehr lesen kann, über beiden. Das „s“ in „Gemischt” war ein „langes s”, wie es sich gehörte. Wir lernten in der Volksschule die Kurrentschrift und besonders ich, die Klassenbeste, die Schulbeste, wußte sehr genau, wann ein langes s und wann ein rundes s zu schreiben war….
Beide Greißlereien waren winzige Läden mit offenen Sauerkrauttonnen, offenen Gefäßen, aus denen Mehl, Zucker, Soda, Polenta – kein Lebensmittelgesetz stieß sich an dieser Nachbarschaft – mit Schaufeln in selbstgedrehte braune Papierstanitzeln gefüllt wurde; jedenfalls, solang es noch keine Lebensmittelrationierung, keine Lebensmittelmarken gab. Ober der Budel lockten in unhygienischen Zuckerlgläsern klebrigrote Himbeerzuckerln, sanft schimmernde, gestreifte Seidenzuckerln, säuerliche Zitronen- und Orangenzuckerln. Die Auslage, das Schaufenster „unseres” Geschäftes, der Gemischtwaren- und Feinkosthandlung, in der der dörfliche Mittelstand einkaufte, war mit lila Pappendeckelschokoladen, gelb-roten Maggi-Attrappen und bunten Luftballonen dekoriert, die bald unansehnlich und schrumpelig wurden. Am Boden des Schaufensters lagen tote Fliegen, zappelten sich Wespen zu Tode.
Voller Sehnsucht stand ich vor den bunten, verlockenden Packungen und vergaß beinahe die auswendig gelernte Einkaufsliste. Das kleinere Geschäft blieb den Ärmeren vorbehalten. Ich weiß nicht, ob es wirklich die Ärmeren waren, wir jedenfalls hielten sie dafür. Die Greißlerin, die alte Mattitsch – sie hieß die alte Mattitsch, solang ich mich zurückerinnern kann war dick, graugewandet und grauhaarig, hatte Elefantenfüße in eng geschnürten, grauen Gesundheitsschuhen. Sie saß hinter der Kassa und stand so gut wie nie auf, außer, jemand verlangte eine seltener gebrauchte Ware aus dem obersten Regal. Dann erhob sie ihre Masse ächzend aus dem engen Gehäuse ihrer Kassa und stieg – das war jedesmal ein Erlebnis auf die schwankende Stehleiter. Das weiße Fleisch ihrer Waden quoll über den Rand der Schnürschuhe. Nach dieser Anstrengung zog sie sich für den Rest des Tages, vielleicht auch der Woche, hinter ihre geliebte Kassa zurück. Wahrscheinlich ist sie auch hinter der Kassa gestorben, viele Jahre später.
Wir hatten unser Büchel in unserem Geschäft, bei der Jäger-Fini, und kauften daher nur dort ein, das war Ehrensache. Aber Griffel und Hefte gab es nur bei der alten Mattitsch, ebenso die beliebte Brauselimonade in Papiersackerln. Es wäre möglich gewesen, aus dem Pulver tatsächlich Limonade zu machen, aber meist kam es gar nicht dazu. Wir ließen die Kristalle in die hohle Hand rieseln, spuckten darauf, bewunderten die aufschäumenden roten, orangen oder gelben Blasen und leckten die picksüße Herrlichkeit vom Handteller. Noch auf der Zunge setzte sich das erregende Prickeln fort. Brausepulver war ein Luxus. Naschen war eigentlich verboten. Aus welcher Geldquelle konnten wir uns den Luxus leisten? Ich weiß es nicht mehr. Taschengeld bekamen wir keines. Hie und da verdiente ich mir 50 Pfennig oder eine Deutsche Reichsmark, indem ich zu Besuch kommenden Onkeln mit oder ohne Aufforderung schwierige Fremdwörter richtig buchstabierte. „Katarrh”, „Rhythmus” und „Hyazinthe” gehörten dazu…..
Die alte Jäger war eine gute Haut. Wenn es die Fini nicht sah, schenkte sie uns verschrumpelte Luftballone, winzige Bensdorp-Schokoladeriegel (auch als es diese schon längst nicht mehr frei zu kaufen gab) und Zuckerln aus den verstaubten, verpickten Zuckerlgläsern ober der Budel. Manchmal ist uns die Fini nachgelaufen und hat gejammert, daß die Mama schon wieder alles herschenkt, und hat versucht, wenigstens einen Teil zurückzukriegen. Wir waren zumeist schneller, vor allem noch gieriger. Und die Fini mußte ja zurück ins Geschäft.
Von der dunkelsten Ecke des ohnehin dunklen Ladens aus konnte man einen Blick „hinter die Budel“ machen. Das taten wir mit großem Herzklopfen. Ich weiß nicht, was wir dahinter erwarteten oder befürchteten. Es war wie ein Blick hinter eine Bühne. In dieser dunkelsten Ecke standen die Bauern, vornehmlich der gar nicht germanisch wirkende Ortsbauernführer, und ließen sich von der alten Jäger einen Schnaps einschenken, was wohl verboten war……
Hinter der Budel hing an der Wand auch das einzige mir bekannte Telefon. Von hieraus mußte ich immer die Hebamme, die Frau Strohbach, anrufen, wenn es daheim wieder einmal soweit war. Alle eineinhalb Jahre war es soweit, in einem verdächtig gleichmäßigen Abstand nach dem jeweiligen Fronturlaub vom Vati. Eine längere Pause entstand erst, als der Vati in Kriegsgefangenschaft undsoweiter war. Die Telefonnummer der Hebamme konnte ich auswendig. Telefonbücher waren überflüssig, es gab nur zweistellige Nummern. Und was ich zu sagen hatte, konnte ich auswendig: „Die Mutti läßt ausrichten, der Blasensprung war schon.” Was immer das bedeutete – ich führte meine Aufträge aus.
Die Kundschaften kauften in den beiden Geschäften meist auf Büchl. Das hieß, man ließ aufschreiben, ohne sich zu genieren, und bezahlte am Ersten den Großteil der aufgelaufenen Rechnung. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir jemals auf Null kamen. Aber darüber sprach man nicht, und die Fini mahnte nie. Egal, wieviel wir abstotterten, beim Bezahlen bekam das Kind, das das Geld brachte, immer irgendeine Süßigkeit oder einen Wurstzipfel. Meist brachte ich das Geld……..
Und dann gab es noch ein drittes Geschäft, das nur „Feinkost” hieß. Es war wirklich fein, dieses Geschäft. Und es hatte auch seinen Standort weit entfernt von den beiden gewöhnlichen Greißlereien in der Ortsmitte; das Feinkostgeschäft befand sich am Ortseingang, in der Nähe der schönen verwunschenen Villen. Als Kind war ich nur sehr selten dort einkaufen. Was es dort gab, war, so schien es mir wenigstens, nicht für kinderreiche Familien bestimmt. Ich hätte zu gern gewußt, ob auch die feine Kundschaft dort auf Büchl einkaufte. Die feine Kundschaft wurde mit „Herr Kommerzialrat”, „Frau Doktor”, „Frau Ingenieur” angesprochen, zumindest jedoch mit „Gnäfrau”. Auch wir Kinder waren höflich bediente, ernstgenommene Kundschaften. Trotzdem: Es war nicht „unser” Geschäft. Wir wußten sehr wohl, wo wir hingehörten…..
„Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, alles, alles, alles sammeln wir…” – singend zogen wir durchs Dorf und klapperten mit den WHW-Sammelbüchsen, den Geldbüchsen für das Winterhilfswerk. Wir sammelten tatsächlich alles – für unsere Soldaten in Rußland, für den Endsieg, für die Volkswohlfahrt; wir sammelten sogar ausgebürstete, in Ringerl gedrehte Haare, wovor mir grauste. „Kampf dem Verderb” es durfte nichts, nichts weggeworfen werden. Und wir sammelten Heilkräuter in vorgeschriebener Menge…..
Auch ein richtiger ungezähmter Bach floß durch das Dorf, in dem es Fische gab und Blutegel. Vom Wirtnigteich bei Pirk kommend floß er an der Schule vorbei, unterquerte die Hauptstraße, wand sich, unreguliert und bei Schneeschmelze und Dauerregen Hochwasser führend, durch das ganze Dorf und mündete irgendwo im Sumpf in den See. Saftiggrün und sanft war sein Ufer, an dem die Dotterblumen blühten, Vergißmeinnicht und Veilchen. ……
Um den Dorfbach rankten sich schaurigschöne Geschichten. Die „krumpe Felfer”, jene krumme Weide, die angeblich Schloß und Dorf den Namen gegeben hatte, stand wohl einst an diesem Gerinne. Warum hätten nicht auch „Salige Fräulein” ihr Klagelied an ihm singen sollen, wie sie es an der Glanfurt, an der Furt der Klagen, getan hatten? …..