In unserem Dorf wohnten mehrere englische Besatzungsfamilien mit ihren vielen Kindern. Die Männer trugen Uniformen, fuhren Militärautos und erfüllten Aufgaben, über die wir nicht nachgedacht haben. Jedenfalls schien es uns einheimischen Kindern, als würden diese distanzierten Menschen ein bequemes, ziemlich nutzloses Leben führen. Die Familien lebten in ihrer eigenen Welt, neben und nicht mit der Kärntner Bevölkerung. Sie hatten möglicherweise sogar den ausdrücklichen Auftrag, Distanz zu halten. Ganz im Gegensatz zu der ersten Welle von Soldaten, die die Menschen durch ihre offene, sportliche, faire Art überrascht hatten, waren uns die beamteten Berufsoffiziere und Soldaten, die sich auf Dauer niedergelassen hatten, nicht sonderlich sympathisch. Wir hassten sie nicht, aber wir belächelten sie ein wenig. Ihre Kinder waren blass und gut erzogen und stellten zu unserer Ausgelassenheit einen Kontrast dar, der nicht recht in unser Konzept passte.
In Klagenfurt mussten wir das Gymnasium mit den Besatzungskindern teilen. Wenn es um die Benützung der Sportanlagen ging, hatten sie natürlich, wie in allen anderen Belangen auch, uns gegenüber Vorrang. Eine Tatsache, die jene von uns, die politisch zu denken und fühlen begannen, nicht akzeptieren wollten, noch dazu, weil wir das Gefühl hatten, dass sie uns manchmal von oben herab behandelten. Es gab immer wieder Reibereien. Die Professoren versuchten mit allen Mitteln zu verhindern, dass wir uns mit den englischen Schülern anlegten und zu raufen begannen.
Anders liefen die Dinge in Krumpendorf. An einem kalten Winternachmittag rodelten die englischen Buben auf der Wiese unter unserem Haus. Sie trugen kurze Hosen und ihre nackten Schenkel waren zwar blau, aber scheinbar kälteresistent. Ich hatte gerade – ausgerechnet von Geoffe – einen großen Dolch, eigentlich eher ein Buschmesser, geschenkt bekommen. Zu dritt liefen wir mit Prügeln bewaffnet und ich meinen Dolch schwingend unter wildem Geschrei auf die englischen Buben zu. Unsere Drohgebärden zeigten Wirkung. Sie ließen in Panik die Schlitten stehen und rannten nach Hause.
Nur wenige Minuten später, als ich das Buschmesser noch in der Hand hatte, erschienen zwei uniformierte Engländer. Ich wusste nicht wohin mit der Waffe und rannte einfach in das nächste Haus hinein. Im Stiegenhaus stand die Hausfrau und war gerade damit beschäftigt, mit einem großen Tuch das Geländer abzustauben. „Die Engländer“, keuchte ich nur. Sie begriff sofort, versteckte blitzschnell meinen Dolch in ihrem Staubtuch und arbeite seelenruhig weiter. Diese Dame, die Mutter eines Freundes, der aber bei der Attacke nicht beteiligt war, hatte grundsätzlich den Ruf, ungewöhnlich streng zu sein. Aber in diesem Augenblick war sie unser rettender Engel und spielte die ihr aufgezwungene Rolle mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit. Die beiden Soldaten wollten unbedingt wissen, wo das Messer hingekommen sei, kamen aber nicht auf die Idee, dass die seriös wirkende Hausfrau es in der Hand hatte. So zogen sie sichtbar verärgert ab.
Am selben Abend erhielten wir zu Hause vom englischen Militärkommandanten des Ortes Mr. Brooks offiziellen Besuch. Er wollte, da dies nicht der erste Vorfall gewesen war, eine persönliche Aussprache mit mir. Er war um die Sicherheit der englischen Kinder besorgt. Seine Sorge war verständlich, obwohl wir nie die Absicht hatten, jemanden zu verletzen. Aber unsere kleinen Bosheiten und Drohgebärden waren an der Tagesordnung und müssen für die Engländer sehr unangenehm gewesen sein. Geoffe war auf Wunsch von Mr. Brooks von dem Gespräch ausgeschlossen und meine Mutter ebenfalls. Ich war über die Ernsthaftigkeit und den freundschaftlichen Ton der Aussprache mit dem englischen Offizier tief beeindruckt und versprach ihm am Ende, vom Rebellen zum Vermittler zu werden.
Wenige Tage später erhielt ich von Berry Brooks, dem gleichaltrigen Sohn des Kommandanten, die Einladung zu einer „Birthday Party“. Diese unerwartete, brisante Angelegenheit wurde im Indianerstamm ernsthaft besprochen und von den meisten als offensichtliche Finte abgelehnt. Als echter Pseudodemokrat ließ ich meine Stammesbrüder reden und machte dann trotzdem, was ich wollte. Ich ging hin. Im ehemaligen Gasthof Koch, wo die Besatzung residierte, saß ich inmitten von englischen Kindern an einem riesigen Tisch neben dem Geburtstagskind. Es war wie ein Ausflug in eine andere Welt, die erste Reise, die ich ganz alleine unternommen habe. Das Essen fand ich scheußlich. Ich musste mich überwinden, es hinunterzubringen. Am Ende gab es noch einen zitternden Pudding. Den schaffte ich beim besten Willen nicht.
Heimtückisch habe ich diese bunte Nachspeise mit meinem Löffel, wie ich hoffte unbemerkt, unter dem tief herunterhängenden Tischtuch, nach links und rechts auf den Boden geworfen.
Berry war mir sympathisch. Ich lud ihn nach Hause ein und er kam gerne. Mir wurde erstmals klar, dass man auch im fremden Milieu Freunde haben kann. Ich wollte ihn in den Indianerstamm aufnehmen. Aber er selbst zögerte und die anderen Kinder waren deutlich ablehnend. Berry und ich wurden dicke Freunde. Ich führte eine Art Doppelleben zwischen meinen Kärntner Indianern und dem neuen englischen Freund.
Seine Eltern bewohnten ein eher bescheidenes kleines Haus, hatten sechs Kinder und sehr viele Hunde. Die Mutter war immer zu Hause. Sie war für damalige Begriffe, wo bei den Einheimischen das Essen knapp war, auffallend dick und sehr gemütlich. In dem Haus war, ähnlich wie bei uns, alles erlaubt und ich war dort ein häufiger Gast. Dem Essen wich ich jedoch systematisch aus und behauptete, dass die Großmutter größten Wert auf meine Anwesenheit bei den Mahlzeiten lege.
Im Alter von zwölf Jahren schworen wir uns gegenseitig, alle zehn Jahre, gleichgültig, wo in der Welt wir sein würden, wieder zusammen zu kommen. Obwohl dieses Versprechen in tiefem Ernst abgegeben wurde, haben wir es nicht eingehalten. Ein Jahr später wurde sein Vater versetzt. Wir korrespondierten einige Monate, verloren uns aber dann bald völlig aus den Augen.
Das Leben neben der Besatzungsmacht wurde auch für mich wieder zur reinen Routine, aber es gab nie wieder Reibereien zwischen den englischen und einheimischen Kindern.
Für einige meiner Freunde war ich durch die Freundschaft zu Berry zum Verräter geworden. Mein zukünftiges Leben wurde durch das Verhalten seines Vaters stark beeinflusst. Mir wurde klar, dass es nicht auf Nationalitäten und Sprachen ankommt und dass Freundschaften über die künstlichen Barrieren hinweg, die Menschen aufbauen, möglich sind. Meine Überzeugung, dass Religionen, Rassen, sexuelle Ausrichtungen und Nationalitäten kein Hindernis für freundschaftliche Beziehungen sein dürfen, hatte damals in noch unbewusster Form ihren Ursprung.
Volksschule im letzten Kriegsjahr
Einmarsch der englischen Armee
Partisanen und englische Soldaten
Unser Geoffe
Die Wiederkehr von Geoffe
Die englischen Kinder