Geoffe ist viele Jahre bei uns geblieben. Warum er bei uns und mit uns lebte, war längst kein Thema mehr. Ein Leben ohne ihn hätte ich mir damals gar nicht vorstellen können. Seine Integration in unsere Hausgemeinschaft war ein kleines Detail der Geschichte unseres Landes. Wir hatten durch ihn ein Auto mit Chauffeur zur Verfügung und einen stets hilfsbereiten und praktischen Mann. Freilich kam es vor, dass sich meine Großmutter sehr über ihn ärgerte und er den Frauen auf die Nerven ging. Wenn er für deren Begriffe am Morgen viel zu lange im Bett blieb oder seine Sachen überall herumliegen ließ, war die Großmutter außer sich vor Zorn. Manchmal sagte sie allerdings „unser goldener Geoffe“. Das fand ich schön.
Jeder hatte längst vergessen, dass er eigentlich Besatzungssoldat war. Er führte häufig Lastwagentransporte zu einem Militärcamp an der oberen Adria durch. Einmal durfte ich mitfahren. Welch großes Abenteuer, zum ersten Mal bis zum Meer zu reisen! Die Reise entwickelte sich aber zu einer Qual, denn mir war während der ganzen langen Fahrt sehr schlecht. Es gab damals nur eine enge holprige, zum Teil nicht einmal asphaltierte Straße, die mit unendlich vielen Kurven durch die Berge und das Kanaltal führte. Mitten in Udine, wo Geoffe zu tun hatte, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und musste meinen Magen beim Fenster hinaus entleeren.
Als wir zum Meer kamen, war ich überglücklich. Die Engländer unterhielten in der Gegend von Lignano ein großes Militärcamp. Der endlose Strand, an dem die Soldaten badeten und an dem auch wir uns niederließen, war noch sehr unberührt. Auf dem seichten Sandboden tummelten sich tausende von Krabben, die man mit den Füßen berührte und die einem in die Zehen zwickten. Manche der Krabbenbisse waren recht heftig, aber Geoffe und ich hatten Spaß, denn sie waren ungefährlich und der leichte Schmerz hörte rasch auf. Aber plötzlich verspürte ich einen sehr schmerzhaften Stich, der sich gar nicht wie von einer Krabbe, sondern eher wie ein Hornissenstich anfühlte. Der Schmerz erfasste in Sekundenschnelle meinen ganzen Fuß und wurde immer ärger und unerträglicher. Als ich mit Geoffs Hilfe an Land humpelte, stellten wir fest, dass unter meiner Haut ein dicker roter Strich in Richtung Knie verlief. Es stellte sich heraus, dass es sich um einen damals in diesem Teil der Adria noch recht häufig vorkommenden kleinen giftigen Fisch handelte. Sein Biss hatte ähnliche Folgen wie jener einer giftigen Schlange. Auch einige der englischen Soldaten waren schon gebissen worden, manche sogar mit ernsten Folgen.
Geoffe trug mich auf den Schultern bis ins Camp zu dem Dienst habenden Militärarzt. Dieser erklärte, dass es zum Aufschneiden schon zu spät sei, das Gift hätte sich längst verteilt. Stattdessen gab er mir ein großes Glas mit Cognac. Das sollte ich austrinken. Zum Erstaunen von Geoffe zeigte der Cognac keine Wirkung und ich wurde nicht betrunken. Der starke Schmerz hielt noch mehrere Stunden an. Bei der Heimfahrt ließ er erst knapp vor der Grenze nach. Ich war nach diesem Vorfall jahrelang gegen Bienen- und Wespenstiche völlig immun. Dieser Zustand erwies sich als großer Vorteil, denn wir wurden, wenn wir im Spätsommer oder Herbst barfuß durch die Obstgärten liefen, oft von Bienen und Wespen in die nackten Füße gestochen. Ich spürte keinen Schmerz.
Geoffes Abreise nach England war für ihn und uns sehr traurig. Er war ein sensibler Mann, dem die Tränen ohnehin locker saßen. Schon Tage vor dem endgültigen Abschied konnte er kaum mehr den Mund aufmachen, denn er begann immer gleich zu weinen. Wir wussten, dass es ein Abschied für immer und für ihn, aber auch für unsere Familie, das Ende einer Epoche war.
Die Korrespondenz fiel ihm schwer, denn er war kein Mann von großer Schulbildung. Wir erhielten aber regelmäßig schwerfällige, wehmütige Briefe von ihm, die nicht leicht zu entziffern waren. Später hat er geheiratet, aber seine Ehe blieb kinderlos und seine Frau wurde bald sehr krank. Er hat sie aufopfernd viele Jahre lang bis an ihr Ende gepflegt.
Fast vierzig Jahre nach seinem Abschied im Jahr 1987 verbrachte ich mit meiner eigenen Familie die Sommerferien in Krumpendorf. Es war ein trauriger Sommer, denn mein Vater war sehr krank und wir wussten, dass es sein letzter sein würde. Ich hatte meinen Kindern oft von Geoffe erzählt. An einem heißen Nachmittag ging meine damals achtjährige Tochter Karin, in deren Kopf immer das Unwahrscheinliche möglich und das Unglaubliche erwartet wurde, vorzeitig allein vom Bad nach Hause. Als sie um die letzte Kurve des Pfades zur Terrasse vor der Villa Olbert bog, saß ein weißhaariger Mann auf der Bank. Sie ging einfach auf ihn zu und sagte ohne den geringsten Zweifel in der Stimme: „Good afternoon, Geoffe.“ Der alte Mann nahm sie gerührt und sprachlos in die Arme.
Wir hatten schon lange keinen Kontakt mehr mit ihm gehabt. Mein Vater war Witwer. Ich lebte nach fünfundzwanzig beruflichen Jahren im Ausland, in Wien.
Geoffe hatte plötzlich das dringende Bedürfnis verspürt, nach Krumpendorf zu reisen. Er glaubte zu wissen, „wenn ich den Chief noch einmal sehen will, muss ich jetzt hinfahren“. Er ist mehrere Monate bei uns in Krumpendorf und Wien geblieben und hat viel Zeit mit seinem alten, kranken Freund verbracht.
In Krumpendorf gab es noch Menschen, die ihn sofort erkannten und so begrüßten, als wäre er nie fort gewesen.
Nach seiner Abreise haben wir nichts mehr von ihm gehört.
Volksschule im letzten Kriegsjahr
Einmarsch der englischen Armee
Partisanen und englische Soldaten
Unser Geoffe
Die Wiederkehr von Geoffe
Die englischen Kinder