Als im November Geborener durfte ich im Dritten Reich schon mit fünf Jahren die Volksschule besuchen. Mein Schulweg führte mich bei der Feuerwehr vorbei. Dort wurde, wenn feindliche Flugzeuge im Anflug waren, der Fliegeralarm ausgelöst. Es gab kaum noch Tage ohne Fliegeralarm. Als ich eines Morgens bei der Feuerwehr, die direkt neben der Schule lag, vorbeiging, fragte mich der für den Alarm verantwortliche uniformierte Feuerwehrmann: „Willst du den Fliegeralarm einschalten?“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich musste nur einen Schalter nach oben drehen und schon brüllte die Sirene los. Zwei Minuten später, der Alarm heulte noch, betrat ich voll innerer Befriedigung die Schule. Von diesem Tag an versuchte ich immer zur selben Zeit bei der Feuerwehr vorbeizugehen und durfte auch jedes Mal den Fliegeralarm auslösen, denn die amerikanischen Bomber flogen mit großer zeitlicher Regelmäßigkeit über den Wörthersee in Richtung Graz oder Klagenfurt.
In der ersten Hälfte des letzten Kriegsjahres gingen wir noch in unsere normale Volksschule. Die Kinder der ersten und zweiten Klasse wurden gemeinsam vom Oberlehrer Meier [Mayer] unterrichtet. Er war ein strenger, stolzer Mann, für mich als Kind glaubwürdig und nicht sonderbar. Dass er ein tiefgläubiger Nationalsozialist war, habe ich erst viel später erfahren und einordnen können. Diese Tatsache war für uns Kinder weder ein Begriff noch eine Dimension. Er, dessen drei Söhne gefallen waren, soll gesagt haben, „ich bedaure nur, dass ich nicht noch ein paar Söhne habe, die ich dem Vaterland opfern kann“.
Eine sehr plastische Erinnerung gab für mich unmissverständlichen Aufschluss über sein politisches Denken: Eines Morgens ertönte wieder einmal der grelle Tieffliegeralarm. Als die Flugzeuge in große Nähe zur Schule kamen, ließ uns der Oberlehrer im Gang hinter der Eingangstür Aufstellung nehmen. „Deutsche Buben kennen keine Angst“, sagte er und trat in stolzer Haltung und mit provokanter Furchtlosigkeit vor die Tür. Mit einem Jagdgewehr schoss er auf die Flieger, die bald bemerkten, dass sich da unten etwas rührte. Sie reagierten sofort und griffen die Schule an. Wir erlebten ein wildes Krachen und Fensterklirren. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt, obwohl Splitter durch die Tür geschleudert wurden. Wir waren so aufgeregt und angespannt, dass wir keine Angstgefühle verspürten. Bis die Schule viele Jahre später umgebaut wurde, sah man noch die Löcher von den Einschüssen in der Mauer – wie stumme Zeugen des seltsamen Heldentums unseres Oberlehrers.
Zu Hause waren alle wütend und nannten den Oberlehrer einen alten fanatischen Trottel. Das hat mich sehr empört, denn er war für mein Gefühl der Einzige, der etwas getan hat, um uns Kinder an dieser aufregenden Zeit konkret und spürbar Anteil haben zu lassen.
Oberlehrer Meier brachte uns viele Gedichte und Sprüche bei. Einer, an den ich mich gut erinnere, lautete:
„Wenn Gott im Himmel spräch‘ zu mir,
welch Land der Welt erwählst du dir,
ich säumte nicht und sagte gleich,
mein Vaterland, mein Deutsches Reich.“
Ein Jahr später, nach Ende des Krieges, saß ich im selben Klassenzimmer, jetzt in der zweiten Klasse und hatte den Oberlehrer König. Auch er, der gewissenhafte Lehrmeister der neuen Epoche, brachte uns viele Gedichte und Sprüche bei. Darunter:
„Wenn Gott im Himmel spräch‘ zu mir,
welch Land der Welt erwählst du dir,
ich säumte nicht und sagte gleich,
mein Vaterland, mein Österreich.“
Beide, der überzeugte großdeutsche und der ebenso überzeugte österreichische Oberlehrer lehrten uns aber die Worte:
„Und ist es auch der Himmel selber nicht,
so ist es doch ein Stück vom Paradies,
das Gott vom Himmel fallen ließ.“
Gemeint war Kärnten.
Einige Monate vor dem Ende des Krieges mussten wir die alte Schule verlassen. Sie wurde in ein Lazarett umgewandelt. Wir zogen in ein Gartenhaus, wo es nur bei schönem Wetter Unterricht gab. Auch Oberlehrer Meier verschwand. Ich habe nie mehr von ihm gehört. Der Unterricht in dem Gartenhaus war entspannt und wir erlebten dort eine sehr spezielle naturnahe fröhlich-melancholische Atmosphäre. Die junge Lehrerin war mit uns sehr freundschaftlich, ja liebenswürdig. Sie sprach manchmal davon, dass etwas zu Ende gehe und nachher alles anders sein würde. Aber wir sollten nicht alles glauben, was man uns dann erzählen werde. Diese Stimmung, die sie uns vermittelte, war sehr eindringlich. Ich erinnere mich an ihre Worte: „Wer verliert hat nie recht, aber ihr dürft das in eurem ganzen Leben so nicht glauben.“ Sonst erinnere ich mich in diesen letzten Tagen, als in Kärnten noch das Dritte Reich aufrecht war, nur an viel Sonnenschein und einen tiefblauen Wörthersee. Vor uns Kindern wurde nur Belangloses gesprochen.
Als ich eines Morgens an einem Gebäude vorbeiging, in dem früher häufig Feste und Bälle stattgefunden hatten, war ich von dem Anblick, der sich mir bot, überrascht und völlig schockiert. An den ebenerdigen Fenstern lehnten verwundete Soldaten mit weißen Verbänden am Kopf, an den Armen und Schultern. Andere lagen und saßen im Inneren des zu einem Lazarett umfunktionierten Raumes auf schmalen Betten. Manche wirkten sehr krank und ich hatte Angst, dass sie, noch während ich hineinblickte, sterben könnten. Einige sprachen mit mir. Sie waren sehr freundlich, für meine Begriffe sogar komisch, und das passte absolut nicht zu dem Zustand, in dem sie sich befanden. Ihr Deutsch klang anders als jenes, das ich gewohnt war. Sie aber fanden meinen Kärntner Dialekt zum Lachen. Ich wollte diesen Ort fortan meiden, denn der Anblick der verwundeten Männer machte mir Angst und verfolgte mich in der Nacht. Aber als ich dennoch dort nur wenige Tage später wieder vorbei musste, war der Spuk längst vorbei und die Männer waren weg.
Eines Tages sagte unsere Lehrerin unerwartet, dass heute der letzte Schultag für längere Zeit sei und wir einfach ohne nachzudenken unsere verlängerten Ferien genießen sollten. Wir realisierten natürlich nicht, dass wir gerade an einer politischen Bruchlinie anlangten, die unser gesamtes Leben verändern sollte. In unserem Haus – und ich glaube, dass es bei anderen Familien ähnlich war – legte man Wert darauf, uns Kindern den Eindruck zu vermitteln, dass alles normal sei. Wir sollten durch die Ungewissheit und die unsichere Zukunft – Verzweiflung für manche und Hoffnung für andere – in unserem sorglosen Alltag nicht beeinträchtigt werden. Meinen Eltern und jenen vieler meiner Schulkameraden ist es gelungen, für uns einen nahtlosen, unbeschwerten Übergang zu gestalten. Die Sorgen, die sie selbst herumschleppten, und die Probleme, die sie zu lösen hatten, nahmen wir kaum wahr.
Volksschule im letzten Kriegsjahr
Einmarsch der englischen Armee
Partisanen und englische Soldaten
Unser Geoffe
Die Wiederkehr von Geoffe
Die englischen Kinder